Typologie des Schweizer Einfamilienhauses

Die Architektur der Schweizer Einfamilienhäuser ist schwer greifbar. Während sich herrschaftliche Villen wie auch Mehrfamilienhäuser meist problemlos Epochen und Stilen zuordnen lassen, bewegen sich Einfamilienhäuser seit jeher im Spannungsfeld zwischen Individualismus und dem finanziell Machbaren.

Text — Raphael Hegglin

 

Dass die meisten Einfamilienhäuser ein Potpourri aus verschiedenen Stilen und Materialien sind, liegt in ihrer Geschichte und Funktion begründet. Die Entstehung des Einfamilienhauses ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu suchen – mitten in der Industrialisierung. Während der Jahrhunderte davor lebten die meisten Menschen nicht etwa in grosszügigen Häusern oder romantischen Chalets, sondern auf engstem Raum in einer Wohnung. Zwei Zimmer pro Familie in einem barrackenähnlichen Gebäude waren für die Arbeiterschaft damals Standard.

Die schlechten Wohnbedingungen – gepaart mit einer hohen Luftverschmutzung – forderten ihren Tribut: Krankheiten, Arbeitsausfälle und unzureichende Leistungsfähigkeit wurden zunehmend zum Problem. Die Unternehmer dieser Zeit begannen daher, die Wohnqualität zu fördern. Das geeignete Mittel dazu schien ihnen das Einfamilienhaus: Das eigene kleine Häuschen sollte das Fundament einer verlässlichen, bürgerlichen Existenz bilden und mit dem Arbeitsort verwurzeln.

 

ARBEITERHÄUSCHEN UND CHALETS

Der Plan ging auf: Wer ein Haus hat, lebt zu einem grösseren Masse selbstbestimmt und weiss, wofür er oder sie arbeitet. In jener Zeit war das Einfamilienhaus also nicht nur Traum, sondern ermöglichte auch ein menschenwürdigeres Leben. Zumindest Ersteres hat sich bis heute nicht geändert.

Doch wie sahen unsere ersten Einfamilienhäuser aus? Und wie haben sie sich weiterentwickelt? Anfänglich prägten zwei Stile die Schweiz: Einerseits das aus England übernommene Reiheneinfamilienhaus, das typische Arbeiterhäuschen. Andererseits das Chalet, so etwas wie der Urtypus des Schweizer Einfamilienhaus. Beiden gemeinsam war die standardisierte und dadurch günstige Bauweise – und der Garten, welcher sowohl der Lebensqualität als auch der Selbstversorgung diente.

 

KLARE BAUSTILE GIBT ES NICHT

Bis heute ist das Einfamilienhaus ein Hort der Familie und der bürgerlichen Existenz. Seine Architektur richtet sich dabei oft nach dem Mach- bzw. Finanzierbaren. Vielen ist es wichtig, dass ihr Eigenheim gut in ein Quartier eingebettet ist, Extravaganzen sind selten – beziehungsweise eher bei Villen zu sehen. Individuelle Gestaltungswünsche, die sich nicht nach einem Architekturstil oder einer Bauepoche richten, sind allerdings gang und gäbe. Schweizer Einfamilienhäuser lassen sich daher kaum Baustilen zuweisen. Das Baujahr lässt sich bei ihnen eher anhand der verwendeten Materialien und technischer Merkmale erahnen.

 

WANDEL DER TECHNIK

Die grossen Unterschiede liegen bei Einfamilienhäusern vorwiegend im Inneren verborgen, sprich bei der Bausubstanz und der Haustechnik. Grosses Thema ist heute zum Beispiel die nicht vorhandene oder mangelnde Wärmedämmung. Eine solche begann sich erst ab den 1990er-Jahren durchzusetzen. Die Energieeffizienz eines Gebäudes wird jedoch auch durch dessen Konstruktionsweise bestimmt. In diesem Punkt unterschieden sich die Bauperioden stark.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Haustechnik. Zwar heizt hierzulande niemand mehr mit Kohle, und auch der traditionelle Kachelofen ist mehr oder weniger verschwunden. Doch Öl- und Gasheizungen sind immer noch in der Mehrzahl. Der Umstieg auf eine Wärmepumpe setzt jedoch oft – aber nicht immer – bauliche Anpassungen voraus. Auch darin unterscheiden sich Altbauten also voneinander. Es ist daher wichtig, die Eigenheiten eines Hauses zu kennen und bei der Sanierung zu berücksichtigen.

EINFAMILIENHÄUSER IM LAUFE DER ZEIT

Vor 1910

Liebhaberobjekte mit Charme und hohen Ansprüchen

Aus dieser Zeit sind vor allem Reihenhäuser (Arbeiterhäuschen), Chalets, Bauernhäuser und Villen erhalten geblieben. Ihre Materialisierung ist daher sehr unterschiedlich. Die Instandhaltung dieser Liebhaberobjekte erfordert viel Spezialwissen. Zudem sind oft spezielle gesetzliche Anforderungen (Denkmalschutz) zu berücksichtigen. Doch auch bei solchen Häusern lassen sich die Energieeffizienz und der Komfort so weit verbessern, dass sie heutigen Ansprüchen gerecht werden – ohne dass der Charme des Hauses darunter leidet.

1910 bis 1949 

Schlichte Architektur, die Gestaltungsmöglichkeiten bietet

Hier dominiert oft Schlichtheit, moderne Architektur ist zunehmend wahrnehmbar. Die Aussenwände sind meist aus einschaligem Backstein-Mauerwerk. Dieses wurde zur Aussenseite hin mit einem rauen Verputz versehen und weist eher schlechte Schallschutzwerte auf. Balkone findet man an diesen Häusern selten und sie sind fast alle mit einem Satteldach versehen, ihr Estrich ist kalt. Viele dieser Häuser verfügen über einen Naturkeller, nicht selten ist es im gesamten Untergeschoss relativ feucht.

1950 bis 1969

Eine solide Bauweise zeichnet viele Häuser dieser Zeit aus

Zunehmend setzt sich Stahlbeton als Baustoff durch, vor allem für die Geschosse und die tragenden Wände. Ab den 1950er-Jahren gewinnt das Flachdach zunehmend an Akzeptanz und ist immer mehr auch an Einfamilienhäusern zu sehen. Die Grundstruktur – bestehend aus Fundament, tragenden Wänden, Böden und Dachkonstruktion – befindet sich an diesen Häusern oft immer noch in guten Zustand. Flachdächer aus dieser Zeit weisen hingegen nicht selten konstruktive Mängel auf, da es noch an Erfahrungen fehlte.

1970 bis 1989

In dieser Epoche wächst die architektonische Vielfalt

Die Vielfalt der Einfamilienhaus-Architektur nimmt deutlich zu. Neben Aussenverputzen sind zunehmend auch Sichtbeton, Faserzement-Platten, Sichtmauerwerk und andere Materialien zu sehen. Aufgrund der Ölpreiskrise wird Energieeffizienz bei Gebäuden erstmals Thema. Die energetischen Verbesserungen fallen aus heutiger Sicht jedoch bescheiden aus und Häuser aus dieser Zeit weisen aufgrund architektonischer Spielereien oft zahlreiche Wärmebrücken aus. Dafür wurde oft solide gebaut und die Bausubstanz ist heute noch einwandfrei.

1990 bis 2009

Energie-Vorschriften beeinflussen Konstruktion und Design

Einfamilienhäuser aus dieser Zeit verfügen schon über eine Wärmedämmung, akuter Sanierungsbedarf besteht nicht. Doch in vielen Fällen hat die Heizung das Ende ihrer Lebensdauer erreicht und ein Ersatz steht an. Ähnliches gilt für Küche und Bad. Besitzerinnen und Besitzer solcher Häuser befinden sich heute meist in der komfortablen Lage, vorausschauend und ohne Zeitdruck die kontinuierliche Instandhaltung und Erneuerung ihres Eigenheims zu planen. Diese Chance sollten sie allerdings nicht verstreichen lassen.

Fotos: Peter Hert / i-PRESSUM GmbH