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Der Plan: Atmosausstieg

Die Schweiz will in Zukunft auf  Kernkraftwerke verzichten. Dazu muss nicht nur mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen kommen, auch soll der Verbrauch sinken. Was sind eigentlich die Gründe für den Atomausstieg?

Text — Raphael Hegglin

 

Der Reaktorunfall von Fukushima brachte das Fass zum Überlaufen: Im Jahr 2011 haben Bundesrat und Parlament entschieden, in Zukunft auf Kernkraftwerke zu verzichten. Bestehende Anlagen dürfen zwar noch weiterlaufen, aber nicht mehr ersetzt werden. Ein Technologieverbot bedeutet dies jedoch nicht: Nuklearforschung ist in der Schweiz weiterhin möglich (siehe auch Infokasten: Neue Reaktortypen).

Von den insgesamt fünf Reaktoren in der Schweiz ist bereits einer – jener des Kernkraftwerks Mühleberg – stillgelegt; dies seit Ende 2019. Wie lange die verbleibenden Kernkraftwerke noch Strom produzieren, ist nicht genau definiert. Laut Bund soll der Atomausstieg bis im Jahr 2034 vollzogen sein.

 

WELTWEITER ATOMAUSSTIEG

Die Schweiz steht mit ihrem Entscheid nicht allein da. Unter anderem haben sich die Nachbarländer Deutschland, Österreich und Italien dazu entschieden, künftig keine Kernkraftwerke mehr zu betreiben. Und Frankreich – Weltmeister in Sachen Atomstrom – möchte bis 2035 zumindest die Hälfte der 57 Reaktoren vom Netz nehmen.

Insgesamt haben sich weltweit 19 Länder für den Atomausstieg entschieden und in vielen weiteren Ländern denkt man darüber nach. Gegenwärtig betreiben 30 Länder 441 Kernreaktoren – über die Hälfte will diese längerfristig abschalten und nicht mehr ersetzen.


ENORME SCHADENSSUMME

Hauptgrund für einen Ausstieg aus der Kernenergie sind die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und verschiedene Reaktorunfälle, wie zum Beispiel jener im japanischen Fukushima. Zwar sind Störfälle selten, bei denen radioaktives Material austritt, die Folgen können aber drastisch sein. So geht man davon aus, dass in Tschernobyl mehrere Tausend Menschen an Strahlenkrebs gestorben sind oder noch sterben werden – teilweise ist von bis zu 60'000 Krebstoten die Rede.

Hinzu kommt eine weltweite Schadenssumme von mehreren Milliarden Dollar, die täglich wächst. So muss die Ukraine heute noch 5 % des Staatshaushaltes für die Unfallbewältigung aufwenden. Insgesamt sollen die rund 70 Störfälle, die sich weltweit in den letzten 70 Jahren ereignet haben, einen finanziellen Schaden etwa 500 Milliarden Dollar verursacht haben.

INFO

NEUE REAKTORTYPEN

Auch wenn zahlreiche Länder  der Kernenergie den Rücken zuwenden: Die Forschung geht weiter. Die neuen Kernreaktoren der vierten Generation sollen verschiedene Vorteile bringen. Einige Prototypen arbeiten sogar mit – schon vorhandenen – radioaktiven Abfällen. Sie verursachen also keinen Atommüll, sondern reduzieren ihn sogar. Ein anderes Konzept beruht auf Minireaktoren, die sich leichter beherrschen lassen und von denen im Störfall eine kleinere Gefahr ausgeht. Grosser Förderer dieser neuen Technologien ist Bill Gates, der dazu die Firma Terra Power gegründet hat.


GÜNSTIGER ATOMSTROM?

Der potenzielle finanzielle Schaden durch eine nukleare Katastrophe wird mittlerweile auf bis zu 6500 Milliarden Franken geschätzt. Die Versicherungsdeckung der KKW-Betreiber sind allerdings meist ungenügend, in vielen Staaten ist nicht einmal eine Versicherung erforderlich. Bei einem Störfall bezahlen daher die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – sofern sie dies können. Rechnet man diese Risiken in den Strompreis hinein, ist Atomstrom nicht mehr so günstig, wie es auf den ersten Blick scheint. 

Hinzu kommen radioaktive Abfälle, die sich in der Schweiz nach wie vor in Zwischenlagern befinden. Auch von diesen geht eine gewisse Gefahr aus. Und sie verursachen laufend Kosten, die eigentlich im Strompreis enthalten sein müssten. Es ist daher fraglich, ob sich ein neu gebautes Kernkraftwerk überhaupt noch rentabel betreiben liessen, wird doch der Strom aus erneuerbarer Energie immer günstiger.

 

ZU- ODER ABNEHMENDER STROMBEDARF?

In der Schweiz macht Atomstrom zurzeit 35 % des erzeugten Stromes aus, während 56 % aus der Wasserkraft, 6 % aus erneuerbaren Energiequellen und knapp 3 Prozent aus fossiler Energie stammen. Werden die Kernkraftwerke abgeschaltet, dann entfällt also mehr als ein Drittel des hierzulande erzeugten Stroms. Wie lässt sich das verkraften?

Laut Bund ist dies möglich, indem auf der einen Seite erneuerbare Energiequellen stark ausgebaut werden und gleichzeitig die Energieeffizienz steigt. So soll der Stromverbrauch in den nächsten Jahren um 13 Prozent gegenüber dem Stand im Jahr 2000 abnehmen. Ein schwieriges Unterfangen, sollen wir doch gleichzeitig auf Elektrofahrzeuge umsteigen. Es kann daher auch sein, dass der Strombedarf in den nächsten Jahren zu- und nicht abnimmt.


SCHWANKUNGEN AUSGLEICHEN

Grösste Hoffnungsträgerin der Energiewende ist die Photovoltaik. Laut einer BFE-Studie aus dem Jahr 2019 liegt hierzulande das Potenzial für auf Gebäudedächern produziertem Solarstrom bei jährlich 6,7 Terrawattstunden. Das ist rund 10 % mehr als unser gesamter jährliche Stromverbrauch. Zusätzlich sollen sich 1,5 Terrawattstunden mittels zusätzlicher, nicht in Gebäude integrierter Anlagen, produzieren lassen.

Solarstrom könnte die drohende Stromlücke also schliessen. Doch nicht allein: Solarstrom fällt bekanntlich im Sommer reichlich und im Winter eher knapp an. Photovoltaik muss daher mit Windenergie ergänzt werden. Denn es gibt im Winter mehr Windstrom als im Sommer. Zusätzlich wird die Energiewende grossen technologischen Fortschritt erfordern, denn Wasserkraft, Photovoltaik und Windenergie unterliegen immer Schwankungen. Grosse Stromspeicher und intelligente Stromnetze sind daher ebenfalls Voraussetzung für eine Zukunft mit 100 % erneuerbaren Strom. Es gibt also noch viel zu tun.

INFO

BEISPIELRECHNUNG EINER FAMILIE IM EINFAMILIENHAUS
 

MEHRBELASTUNG MEHRBELASTUNG
NACH BAFU *1)
MEHRBELASTUNG
NACH HAUSMAGAZIN *2)
Netto CO2-Abgabe Heizöl (mit Rückverteilung) 164 Fr. 280 Fr.
Kompensationsaufschlag Treibstoff (Auto) 53 Fr. 91 Fr.
Netto Flugticketabgabe (mit Rückverteilung) - 120 Fr. 80 Fr.
Total Kosten pro Jahr (inkl. Rückverteilung) 97 Fr. 451 Fr.

 

 

 

 

*1) Haus mit 128 m2 Fläche und 8 l/m2 Heizölverbrauch, jährlich 12'500 km mit Auto (Verbrauch 6.08 l/100 km), 1 x pro Jahr Flugreise innerhalb Europa.
*2) Haus mit 140 m2 Fläche und 15 l/m2 Heizölverbrauch bei maximaler Lenkungsabgabe, jährlich 12'500 km mit Auto (Verbrauch 6.08 l/100 km, maximaler Kompensationsaufschlag), 1 x pro Jahr Flugreise ausserhalb Europa (mittlere Strecke).


MEHR FÖRDERBEITRÄGE DURCH KLIMAFONDS

Das Gebäudeprogramm und der Technologiefonds werden mit dem Klimafonds zusammengefasst und ausgebaut. In den neuen Fonds fliessen jährlich etwa eine Milliarde Franken, davon gelangen maximal 450 Millionen ins Gebäudeprogramm, um energetische Sanierungen zu fördern. Der grosse Teil des restlichen Geldes fliesst in den Technologiefonds. Mit diesem fördert der Bund Innovationen, die Treibhausgase oder den Ressourcenverbrauch reduzieren, den Einsatz erneuerbarer Energien begünstigen oder die Energieeffizienz erhöhen.

 

STRENGERE GRENZWERTE FÜR NEUWAGEN

Die CO2-Zielwerte für Autos sowie Last- und Lieferwagen werden verschärft. Heute gilt für Autos ein Zielwert von 95 Gramm CO2/km, ab 2025 soll er um 15 % reduziert werden und ab 2030 um 37,5 %. Auf Benzin umgerechnet entspräche das am Ende einem Verbrauch von etwa 2,2 l/100 km.

 

DER EXPERTE

Christian Zeyer,
Dr. chem. ETH, Geschäftsführer swisscleantech

«DIE SCHWEIZ BRAUCHT EIN INNOVATIONSFÖRDERNDES KLIMA»

 

Die Mehrheit der Wirtschaftsvertreterinnen und -vertreter steht hinter dem revidierten CO2-Gesetz und erkennt Chancen in den grünen Technologien. Mit welchen Produkten und Lösungen kann sich die Schweizer Industrie konkret profilieren?
Schweizer Firmen sind meist erfolgreich in Nischen oder in der Frühphase einer Technologie. Grosses Potenzial liegt in der Maschinenindustrie, der Gebäudetechnik und auch im Fintech-Bereich. Doch die Schweiz braucht dazu ein innovationsförderndes Klima, wie es zum Beispiel das CO2-Gesetz schafft.

Und wo ist die Schweiz punkto Energieeffizienz und Reduktion von Emissionen schon heute führend?
Es gibt zahlreiche vielversprechenden Entwicklungen, die in der Schweiz entstanden sind und das Potenzial haben, weltweit eine Nische
zu erobern. Beispiele sind das Solarfaltdach der dhp technology AG, das elektrische Entsorgungssystem der System-Alpenluft AG oder die Elektrofilter der Clean Air Enterprise AG.

Doch es wird auch Branchen geben, die durch den Weg zur Klimaneutralität in Bedrängnis geraten …
Alle Branchen, die stark auf fossile Brenn- und Treibstoffe angewiesen sind, müssen sich neu erfinden. Aber wir müssen aktiv aus den fossilen Energien aussteigen, das geht nicht von selbst. Wenn eine Firma innovativ unterwegs ist, findet sie Möglichkeiten, ihr Businessmodell neu zu erfinden. Selbst wenn es sich um einen Brennstofflieferanten handelt. Er könnte beispielsweise beschliessen, ins Energie-Contracting*) einzusteigen und statt Brennstoffe beheizte Räume – sprich Raumwärme – anzubieten.

*) Energie-Contracting ist für kleiner Heizungen wie sie in Einfamilienhäusern vorkommen meist nicht empfehlenswert, für grössere Anlagen aber eine interessante Alternative.


AUFSCHLAG AUF BENZIN UND DIESEL

Treibstoff-Importeure werden verpflichtet, die CO2-Emissionen um 90 % monetär zu kompensieren. Die entstehenden Kosten können sie jedoch den Autofahrerinnen und Autofahrern weiter verrechnen. Maximal darf der Aufschlag bis 2024 pro Liter Benzin oder Diesel 10 Rappen betragen, ab 2025 darf er auf 12 Rappen ansteigen. Je nach Marktsituation und Ölpreis werden die Treibstoff-Importeure die Mehrkosten aber nur teilweise auf die Kundschaft abwälzen.

 

FLUGTICKETABGABE

Mit dem revidierten CO2-Gesetz kommt es zu einer Flugticketabgabe. Für einen Kurzstreckenflug wird sie 30 Franken betragen, für längere Strecken maximal 120 Franken. Etwas mehr als die Hälfte der so eingenommenen Gelder wird an die Bevölkerung und die Wirtschaft zurückverteilt, der Rest fliesst in den Klimafonds. Der Rückerstattungsbetrag soll pro Einwohnerin oder Einwohner 60 Franken betragen und wird von der Krankenkassenprämie abgezogen.