Foto: Whyframestudio/iStock.com

Energiestrategie: Makulatur oder Lichtblick?

In Zukunft weder Kernkraft noch fossile Energieträger – und dies bei kontinuierlich steigendem Elektrizitätsbedarf: Will die Schweiz nicht nur klimaneutral werden, sondern auch versorgungssicher bleiben, muss sie noch einmal über die Bücher.

Text — Raphael Hegglin

 

Wenn es eng wird, ist sich jeder selbst am nächsten: Die vergangenen drei Jahre haben uns vor Augen geführt, dass die europäische Zusammenarbeit auf wackligen Beinen steht. Jedenfalls, wenn die Zeichen auf Sturm stehen. So haben Deutschland, Frankreich und Italien zum Beispiel während Covid-19 wichtige Schutzausrüstung zurückgehalten, weil sie davon selbst zu wenig hatten.

Ein klarer Verstoss gegen rechtsgültige Verträge, wie die EU-Kommission befand. Sie wies die betreffenden Staaten an, sämtliche Lieferungen freizugeben. Das Machtwort aus Brüssel half wenig, und die Schweiz musste noch lange auf das ihr zustehende Material warten …

 

STROMIMPORT ALS RETTUNGSANKER?

Was hat dies mit der Energiestrategie 2050 des Bundes zu tun? Einiges: Als man sie vor mehr als zehn Jahren auszuarbeiten begann, ging Bundesbern von einem liberalen und jederzeit funktionierenden europäischen Strommarkt aus. Schon damals wusste man, dass ohne Backup-Kraftwerke die Stromversorgung hierzulande nicht ganzjährig gesichert ist – durch das Abschalten der Kernkraftwerke spitzt sich dieses Problem sogar noch zu. Stromimporte sollen daher heute wie auch in Zukunft temporäre Lücken schliessen. Ob dies jederzeit möglich sein wird, ist nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre nicht mehr sicher. Einen weiteren Schwachpunkt der Energiestrategie 2050 bildet der damals prognostizierte Strombedarf. Konkret fordert sie, dass dieser bis 2035 pro Kopf um 13 Prozent und bis 2050 um 18 Prozent sinkt. Als Bezugsgrösse gilt der Schweizer Stromverbrauch des Jahres 2020.

 

STROMBEDARF NIMMT ZU STATT AB

Heute ist klar, dass der Stromverbrauch in der Schweiz nicht sinken, sondern sogar zunehmen wird. Denn das geplante Mehr an Energieeffizienz wird den steigenden Bedarf durch die wachsende Elektromobilität, die zunehmende Zahl Wärmepumpen, die fortschreitende Digitalisierung und die wachsende Bevölkerung nicht kompensieren können.

Zu diesem Schluss kommen mehrere Studien, unter anderem die kürzlich publizierte «Energiezukunft 2050». An dieser waren rund 70 Mitarbeitende namhafter Institutionen wie der Empa beteiligt. Sie kommen zum Schluss: Je nach Szenario wird unser Strombedarf in den nächsten 30 Jahren von heute jährlich 62 TWh auf 80 bis 90 TWh steigen. Und: «Aufgrund des steigenden Strombedarfs und der sukzessiven Stilllegung der schweizerischen Kernkraftwerke bis 2044 entsteht eine Produktionslücke von 37 TWh, die durch den Zubau neuer Anlagen aufgefüllt werden muss.» Gemeint sind in erster Linie Photovoltaik- und Windkraft-Anlagen.

 

ENERGIEWENDE GEHT VIEL ZU LANGSAM

Ist die Schweizer Energiewende damit gescheitert? Laut Energiezukunft 2050 nicht. Voraussetzung sei allerdings ein massiv beschleunigter Anlagen-Zubau, eine massive Steigerung der Effizienz (unter anderem im Gebäudebereich) sowie der fokussierte Um- und Ausbau der Netze sowie ein enger Energieaustausch mit Europa. Mit anderen Worten: Heute verläuft der Bau neuer Kraftwerke und Photovoltaikanlagen viel zu langsam, genauso wie die Sanierung von Altbauten. Ein Strommangel ist damit vorprogrammiert.

Und auch das neue Papier kommt nicht ohne Stromimporte aus. Sie werden laut Prognosen von heute jährlich 3 TWh sogar auf 7 bis 9 TWh steigen. Die Gründe dafür sind nicht technischer, sondern primär ökonomischer Natur: Um die verbleibende Winter-Stromlücke zu stopfen, wäre eine massive Überkapazität an Photovoltaik- und Windkraft-Anlagen erforderlich. Diese würde die Stromproduktionskosten unverhältnismässig in die Höhe treiben. Es bleibt in Zukunft wesentlich günstiger, bei Bedarf Strom zu importieren.
 

INFO

100 % CO2-NEUTRAL GIBT ES NICHT

Erneuerbare Energie hat den Vorteil, dass sie uns die Natur quasi gratis zur Verfügung stellt und dass sie unsere Atmosphäre nicht mit CO2 belastet. Genau genommen fast nicht: Um Wasserkraftwerke, Solarzellen oder Windturbinen herzustellen, braucht es Rohstoffe und Fabriken, die Energie benötigen und CO2 ausstossen. Besonders ins Gewicht fällt Beton bzw. Zement. So schneiden die verschiedenen Stromarten punkto Treibhausgas-Emissionen ab*1):

  • Wasserkraft: 4 – 8 g CO2-eq/kWh
  • Photovoltaik: 42 g CO2-eq/kWh
  •  Windkraft: 17 g CO2-eq/kWh
  •  Holz: 47 g CO2-eq/kWh
  •  Biogas (Landwirtschaft): 154 g CO2-eq/kWh
  •  Biogas (Industrie): 357 g CO2-eq/kWh
  •  Kernenergie: 15 g CO2-eq/kWh
  •  Erdöl: 771 g CO2-eq/kWh
  •  Erdgas: 613 g CO2-eq/kWh
  •  Kohle: 1200 g g CO2-eq/kWh

*1) Quelle: Umweltbilanz Strommixe Schweiz 2018, Bundesamt für Umwelt BAFU. CO2-eq beinhaltet den Ausstoss sämtlicher Treibhausgase, in die «Währung» Gramm CO2 umgerechnet, damit er sich vergleichen lässt.


GESAMTENERGIEBEDARF KANN SINKEN

Was im gegenwärtigen politischen Diskurs hingegen oft untergeht: Die Energiewende verlangt zwar nach hohen Investitionen, unter dem Strich kann die Schweiz mit ihr jedoch günstiger fahren und erst noch unabhängiger werden. Der Grund dafür liegt in der hohen Effizienz elektrischer Wärmeerzeugung und Mobilität: So ist eine Wärmepumpe drei bis fünfmal effizienter als eine Ölheizung und ein Elektroauto über dreimal effizienter als eines mit Benzinmotor.

Durch den Wechsel von Verbrennungsprozessen auf elektrische wird sich der Gesamtenergiebedarf der Schweiz daher verringern. Heute beträgt er jährlich rund 200 TWh Energie aller Art, rund 60 % davon sind fossil und nicht erneuerbar. Durch den Umstieg auf elektrische Anwendungen könnte der Gesamtenergiebedarf um 25 % auf jährlich 150 TWh sinken – trotz wachsender Bevölkerung (Studie Energiezukunft 2050).

 

OHNE BACKUP-KRAFTWERKE GEHT ES NICHT

Sinkt der Gesamtenergieverbrauch der Schweiz, ist sie weniger auf Energieimporte angewiesen. Was viele Vergessen: Es ist nicht primär Strom, den wir uns bei Bedarf im Ausland beschaffen müssen – im Gegenteil: Während wir Elektrizität überwiegend selbst produzieren können, müssen wir fossile Energieträger – wie auch die Brennstäbe für unsere Kernkraftwerke – zu 100 % importieren. Daher liegt unsere Energieimport-Abhängigkeit heute bei 79 %, nach dem Umbau unseres Energiesystems würde sie noch 30 – 40 % betragen. Allerdings: «Das zukünftige Energiesystem wird zu einem grossen Teil von wetterabhängiger, erneuerbarer Produktion wie Photovoltaik und Windkraft versorgt. Um unter diesen Bedingungen die Versorgungssicherheit aufrecht erhalten zu können, sind Backup-Kraftwerke nötig», so Energiezukunft 2050.

 

MEHR SPEICHERKAPAZITÄT ERFORDERLICH

Versorgungssicherheit hat auch eine zeitliche Komponente: Energieträger wie fossile Brennstoffe lassen sich über Jahre hinaus für den Notfall lagern und mit Brennelementen eines Kernreaktors kann man drei bis vier Jahre lang Strom erzeugen, ehe sie ersetzt werden müssen. Krisen und Versorgungslücken lassen sich daher mit Kernkraft- und Gaskraftwerken bereits heute gut meistern, während es für die Elektrizität aus den erneuerbaren Energiequellen Speicherkapazität braucht – soll unsere Stromzukunft dereinst doch nicht nur umweltfreundlich, sondern auch gesichert sein.

UNSERE ERNEUERBAREN ENERGIEN AUF EINEN BLICK

WASSERKRAFT

  • Funktionsweise: Strömendes Wasser lässt das Laufrad in der Turbine rotieren. Diese Drehbewegung wird auf einen Generator übertragen, der – ähnlich wie ein Fahrraddynamo – Strom erzeugt. Bei der Wasserkraft wird also die kinetische Energie (Bewegungsenergie) des Wassers in elektrische Energie umgewandelt.
  • Stand heute: Über 60 % des hierzulande produzierten Stroms stammt aus Wasserkraftwerken – sie sind unsere wichtigsten Stromlieferanten.
  • Potenzial: Wasserkraft lässt sich in der Schweiz nur noch geringfügig ausbauen. Neue Stauseen in den Alpen stossen auf wenig Akzeptanz. Der Bund schätzt, dass der Ausbau der Wasserkraft zusätzliche 2,2 TWh Strom pro Jahr erbringen könnte. Das entspricht einem Wachstumspotenzial von rund 6 %.
  • Stärken: Da die Niederschlagsmengen jahreszeitlich schwanken, lässt sich mit Wasserkraft zwar nicht immer gleich viel Strom erzeugen. Man kann sie jedoch in Stauseen speichern, wodurch sich Produktions-Schwankungen teilweise ausgleichen lassen.
  • Schwächen: Negativ auf die Umwelt wirken sich die tiefen Restwassermengen in den Flüssen aus. Insbesondere Fische und Amphibien leiden darunter und sind an gewissen Orten gar vom Aussterben bedroht.

PHOTOVOLTAIK

  • Funktionsweise: Sonnenlicht besteht aus elektromagnetischer Strahlung. Trifft diese auf den Silizium-Halbleiter einer Solarzelle, beginnt Strom zu fliessen – eine physikalische Eigenschaft dieses Materials. Strahlungsenergie wird so in elektrische Energie umgewandelt.
  • Stand heute: Knapp 6 % unseres Stroms stammen aus Sonnenenergie. Das ist ein bescheidener Anteil, der allerdings rasch wächst: Allein letztes Jahr wurde die Leistung durch neue Anlagen um 43 % erweitert. Zurzeit investieren Unternehmen, Private wie auch Institutionelle 
    hohe Summen in neue Photovoltaikanlagen.
  • Potenzial: In einer Studie kam das Bundesamt für Energie von 2019 zum Schluss, dass sich in der Schweiz jährlich 67 TWh Solarstrom erzeugen liessen, wenn alle ergiebigen Dach- und Fassadenflächen genutzt würden. Wieviel davon technisch umsetzbar und vor allem rentabel ist, bleibt offen. Trotzdem: Photovoltaik ist momentan grösste Hoffnungsträgerin für mehr Strom.
  • Stärken: Photovoltaik-Anlagen sind einfach realisierbar, funktionssicher und produzieren kostengünstig Strom. Ein weiterer Vorteil ist ihr einfacher Ersatz oder Rückbau am Ende der Lebensdauer. Dieser ist mit deutlich weniger Kosten-, Arbeits- und Energieaufwand verbunden als der Abriss von Wasserkraftwerken, Windturbinen oder Biogasanlagen – und damit umweltschonender.
  • Schwächen: Solarstrom fällt nur tagsüber an und ist abhängig von der Intensität der Sonnenstrahlung. Solarstrom lässt sich also nicht nach Bedarf erzeugen. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, braucht es zusätzlich Backup-Kraftwerke – jedenfalls solange man Strom nicht in grossen Mengen und über längere Zeit speichern kann. 

WINDKRAFT

  • Funktionsweise: Das Funktionsprinzip von Wind- und Wasserturbinen ist in etwa dasselbe. Mit dem Unterschied, dass erstgenannte durch strömende Luft in Rotation versetzt werden. Auch die Windkraft wandelt also Bewegungsenergie (der Luft) in elektrische um.
  • Stand heute: Die Schweizer Windkraftwerke decken zurzeit weniger als 1 % unseres Strombedarfs.
  • Potenzial: Würden alle aus technischer Sicht möglichen Windkraftwerke realisiert, könnte die Schweiz mit ihnen jährlich 29,5 TWh Strom produzieren (laut Bundesamt für Energie). In Realität wird sich aus Gründen des Landschaftsschutzes und aufgrund mangelnder Akzeptanz nur ein Bruchteil davon realisieren lassen.
  • Stärken: Rund 2/3 der Windenergie fällt im Winterhalbjahr an – dann, wenn die Photovoltaik weniger ergiebig ist. Windkraftwerke können daher einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten.
  • Schwächen: Windkraftwerke geniessen in der Bevölkerung weniger Akzeptanz als andere Kraftwerke. Sie werden als störend in der Landschaft empfunden.
Foto: ReativeNature/iStock.com

BIOMASSE

  • Funktionsweise: Als Biomasse bezeichnet man Holz, landwirtschaftliche Biomasse (Pflanzenabschnitte, aber auch Gülle) und biogene Abfälle (z.B. pflanzliche Küchenabfälle). Biomasse enthält viel chemische Energie (Bindungsenergie). Diese lässt sich durch Verbrennen in Wärme umwandeln – zum Beispiel in einer Holzheizung oder in Form von Biogas (nach dem Vergären von Biomasse) in einer Gasheizung. Mit der entstehenden Wärme lässt sich auch Dampf erzeugen, der eine Dampfturbine antreibt – die Strom produziert.
  • Stand heute: Knapp 3 % unseres Stroms werden mittels Biomasse erzeugt.
  • Potenzial: Biomasse ist in der grünen, reich bewaldeten Schweiz eine wichtige erneuerbare Energiequelle. Doch auch künftig wird mit ihr vermutlich vor allem Heizwärme erzeugt werden – die in ihr gebundene Energie lässt sich so effizienter nutzen. Eine Ausnahme bilden Blockheizkraftwerke, die gleichzeitig Wärme und Strom erzeugen und dadurch einen besonders guten Wirkungsgrad aufweisen. Ebenfalls zukunftsträchtig sind Brennstoffzellen, in denen mit Biogas Strom 
    erzeugt wird. Dabei wird chemische Energie direkt in elektrische umgewandelt. Der Wirkungsgrad einer Brennstoffzelle ist daher deutlich höher, als wenn man den Umweg über Verbrennungswärme wählt.
  • Stärken: Biomasse ist eine nachwachsende Ressource mit einer besonders guten CO2-Bilanz sowie ein Schweizer Rohstoff, daher bleibt die Wertschöpfung im eigenen Land.
  • Schwächen: Die Biomasseproduktion lässt sich nur wenig steigern – ausser auf Agrarflächen. Dann aber steht sie in Konkurrenz mit der klassischen Landwirtschaft, welche Lebensmittel erzeugen soll. Die Schweiz nutzt daher keine produktiven Agrarflächen, um darauf Biomasse zur Energieproduktion wachsen zu lassen.